Nun gehen sie jeden Tag ein, die Todeszahlen aus Syrien, beständig und schmerzvoll: 141, 201, 152, 81 (das war ein Glückstag). Vergangenen Samstag wurden 566 Leichen gefunden, davon allein 483 in Damaskus und in den Vororten, berichtet das Local Coordination Committee of Syria, ein Netzwerk von oppositionellen Aktivistengruppen. Dreiundzwanzig Leichen wurden in Aleppo, 21 in Idlib, 15 in Homs, 12 in Dara, sieben in Deir Ezzor, fünf in Hama gefunden.
Das ist die höchste Anzahl von Toten, die seit Kriegsausbruch vor zwei Jahren an einem einzigen Tag gefunden wurden. Aber das ist noch nicht das Ende.
Der März war mit mehr als 6‘000 Toten der bis heute blutigste Monat. Die Gesamtzahl der Todesopfer seit Beginn des Aufstandes 2011 beträgt gemäss Angaben der UN 70‘000. Oppositionellen Quellen zufolge liegt diese Zahl bei 120‘000.
Die Aufgabe, die Todeszahlen einem bestimmten Tag zuzuschreiben, kann sich als schwierig erweisen, wenn Leichen auftauchen, die vor Tagen, Wochen oder Monaten getötet wurden. Wie erfasst man beispielsweise den neuen Leichhaufen, der plötzlich im Queiq Fluss in Aleppo auftauchte, als im Januar die Ufer zurücktraten? Allen 110 Leichen, ihre Hände mit Plastikbindern auf dem Rücken verbunden, wurde in den Kopf geschossen. Vielen von ihnen waren bereits seit Monaten verschwunden, sie wurden wegen angeblicher Unterstützung von Anti-Assad Rebellen verhaftet. Seit Januar wurden weitere Leichen im Queiq entdeckt.
Dann sind da die sogenannten „unbekannten Männer“: gemäss der Syrischen Warte für Menschenrechte gibt es 2‘250 nicht identifizierte Tote, von denen angenommen wird, dass sie Kämpfer aus dem Ausland waren, die sich den Rebellen angeschlossen hatten. Das Ausmass des Gemetzels ist schlicht zu gross als dass man es fassen könnte, womit sich erklären liesse, warum so viele Tote weiterhin unidentifiziert, anonym und ungeprüft bleiben. Es ist einfacher, einen weiteren Punkt ins Diagramm einzuzeichnen, der für einen weiteren Tag des Aufstandes steht.
Ganz zu Anfang wurden die Todesmeldungen mit Namen und Geschichten begleitet. Abdel Karim al-Oqda, ein Graswurzel Journalist des Shaam News Networks, stellte 2011 und 2012 Dutzende Videos des Aufstandes ein – bevor die syrische Armee sein Haus und die sich darin befindlichen Personen vergangenen September niederbrannte. Der vierundzwanzig jährige Basil Al-Sayid, von Online-Fans das „Auge der Wahrheit“ genannt, hielt die Belagerung von Homs einige Monate mit seiner Handkamera fest. Im Dezember 2011 tötete ein Scharfschütze Al-Sayid, als er gerade filmte, was später seine eigene Grabrede werden würde.
Dem Radiomoderator Shukri Ahmed Ratib Abu Burghul wurde im letzten Dezember in den Kopf geschossen, als er nach seiner wöchentlichen Sendung auf Radio Damaskus heimkehrte. Gilles Jacquier, Reporter für französisches TV2, wurde zusammen mit seiner siebenköpfigen Crew getötet, als er über eine Pro-Regime- Kundgebung in Homs berichtet. Marie Colvin, preisgekrönte amerikanische Journalistin, starb neben dem französischen Fotografen Rémi Ochlik, als sie aus einem inoffiziellen Mediengebäude in Baba Amr flohen, das von der syrischen Armee gezielt bombardiert wurde.
Mittlerweile gibt es einfach zu viele Geschichte, zu viele Namen zu verfolgen. Als die Revolution ausbrach, lebten ungefähr 22 Millionen Menschen in Syrien. Seither haben gemäss meinen Berechnungen etwa 2 Millionen Menschen das Land verlassen – genauer wäre es zu sagen, sie seien geflohen. Sie leben jetzt in Zeltstädten und Flüchtlingslagern oder bei Familien in Jordanien, im Libanon oder der Türkei, die ihnen ihre Heime geöffnet haben.
Der jüngste Bericht des UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) zählt 416‘000 heimatvertriebene Syrier allein im Libanon, das heisst, syrische Flüchtlinge machen etwa 10% der eigenen Bevölkerung aus. Mehr als 130‘000 syrische Flüchtlinge warten derzeit auf Vervollständigung ihres Hilfsantrags beim UNHCR, das nicht über die Kapazitäten verfügt, diese zu bearbeiten, geschweige denn, die Flüchtlinge zu ernähren.
In Jordanien ist die Situation sogar noch schlimmer; der tägliche Zustrom von syrischen Flüchtlingen ist gemäss Angaben des jordanischen Aussenministeriums von 1‘000 im Januar auf 4‘000 im März angestiegen. Jordanische Behörden schätzen, dass es etwa 500‘000 syrische Flüchtlinge in ihrem Land gibt, bei einer heimischen Bevölkerung von sechs Millionen. Doch nicht alle Flüchtlinge sind erfasst, also kann die wirkliche Zahl wesentlich höher liegen. Ein jordanischer Entwicklungshelfer, mit dem ich kürzlich sprach, schätzt, dass „jeder fünfte Jordanier jetzt ein Syrer ist“. Sie sind Kinder, hauptsächlich. In den Strassen von Mafraq, wo mein Freund arbeitet, sei kein syrischer Mann in Sicht, sagt er. Sie blieben zurück, um zu kämpfen. Oder sie sind im Gefängnis; oder tot.
Flüchtlingsfrauen trifft es am härtesten. Viele fliehen vor dem grausamen Krieg, nur um dann unterwegs vergewaltigt zu werden. „Der Konflikt in Syrien ist zunehmend von Vergewaltigung und sexueller Gewalt als Kriegswaffe gekennzeichnet“, sagte Erika Feller, leitende UN-Beamtin, im Februar dem Menschenrechtsrat in Genf. Diese verzweifelte Situation zwingt viele heimatvertriebene syrische Eltern, ihre jungen Töchter als Kinderbräute zu verheiraten. Fünfhundert solcher Fälle wurden allein in den vergangenen Monaten in Jordanien dokumentiert.
Es gibt viele Geschichten hinter der Zahl der Todesopfer, und nur wenige werden erzählt. Die syrische Katastrophe wird von alleine nicht aufhören. Die Welt muss einschreiten, bevor wir alle blind werden, bevor sich der Konflikt in eine reine Todesstatistik auflöst.
Nir Boms ist Mitbegründer von CyberDissidents.org. Er schrieb seine Doktorarbeit an der University of Haifa (IL) zur syrischen Opposition.